Kairo

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Wer Station 17 über die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte verfolgt hat, der weiß: das einzig Beständige an dieser Band ist der Wandel. Sich zu entwickeln, Musik zu dehnen, Grenzbereiche auszutesten - darum ging es stets, seit sich die Band 1988 als Projekt der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf unter der Leitung von Kay Boysen gründete. Sieben Alben erschienen seither, aus der Wohngruppe wuchs über die Jahre mit Barner 16 ein inklusives Netzwerk, in dem rund 80 feste und freie Mitarbeiter mit und ohne Handicaps Kunstprojekte jeglicher Couleur entwickeln. Gleichzeitig emanzipierte sich Station 17 immer weiter vom Grundgedanken des reinen kreativ-sozialen Projekts, wuchs zu einer bedeutenden Formation im Bereich des experimentellen Indierock. Man erinnere sich nur an die „Goldstein Variationen“, auf denen Station 17 mit Künstlern wie The Robocop Kraus, Barbara Morgenstern, Schneider TM, Stereo Total, Michael Rother, Fettes Brot, Erobique, Justus Köhnke und vielen anderen kollaborierten. Die Breite dieser Künstlerschar fand ihren Widerhall in entsprechenden Konzert-Engagements: Wohl keine andere Formation schafft es, innerhalb eines Wochenendes auf dem Hurricane Festival, bei einem Empfang des Bundespräsidenten und auf einem Event der Jesus-Freaks gleichzeitig aufzutreten. Station 17 haben es gemacht. Vor drei Jahren dann das jüngste 'Wow': Das Album „Fieber“, die bis ins letzte Detail höchst aufregend editierte Collage einer mehrwöchigen Krautrock-Jamsession auf einem Hof im Wendland. Die ganze Zeit war da Musik, Experiment, Entwicklung, Spaß, Leichtigkeit – und auch Leichtsinn. Denn so ein Album stößt zwangsläufig in die letzten Grenzbereiche experimentellen Arbeitens vor – weiter raus kann man kaum gehen. Ist das neue Werk „Alles für alle“, das nun einem geradezu diametral entgegengesetzten Konzept folgt, eine Reaktion auf das fiebrige Loslassen des Vorgängers? Ja, auch das, aber es ist weit mehr. Denn, um die Katze aus dem Sack zu lassen: Station 17 haben ein Pop-Album gemacht. So sehr Pop, dass es erstaunt, verwundert und manche sicher auch eine Spur ratlos zurück lässt. Es zitiert den Synthie-Pop der 80er, ruft Bands wie Heaven 17 oder The Human League wach und verbindet diese Inspirationen mit knackigen, nicht selten auch sarkastisch angehauchten Jetzt-Texten und Melodien, die unmittelbar ins Ohr gehen. Cheesy? Knapp dran vorbei. Vielmehr: Mut zum Reflex, neuen Experimenten einfach zu folgen, anstatt sie kulturhistorisch und Trend-technisch zu hinterfragen. Denn ein weiterer fester Bestandteil von Station 17 ist die Veränderung und Entwicklung der personellen Struktur. Entsprechend geht „dieser ganze musikalische Wandel auch einher mit einem neuen Umfeld, das diese Band in den vier Jahren seit 'Fieber' bekommen hat“, erzählt Keyboarder Sebastian Stuber. „Dadurch hat sich auch das musikalische Arbeiten total verändert. Es kamen Sänger und Sängerinnen dazu wie Parjia, Siyavash oder Carsten. Durch ihre Mitwirkung hat sich für die Band die Möglichkeit ergeben, richtig ausformulierte Texte in die Musik einzubinden und klar definierte Songabläufe umzusetzen.“ Außerdem, ergänzt er noch, seien „diese Einflüsse auch ein wenig der Altersstruktur der Band geschuldet, viele sind in den 80ern musikalisch sozialisiert worden.“ Und doch: Der Schritt vom brutal experimentellen Krautrock-Überflieger zum aktuellen Pop-Juwel „Alles für alle“ dürfte einer der größten sein, den je eine deutsche Band von einem Album zum nächsten vollzogen hat. „Sicher gab es mittlerweile auch einen gewissen Überdruss in Sachen instrumentaler Musik und dem experimentellen, länglichen Musizieren“, erklärt Stuber. „Live machen wir das natürlich immer noch, aber für das neue Album wollten wir gern ein ganz neues Konzept haben: klassische Songs. Punkt.“ Eineinhalb Jahre hat die Band in wechselnden Arbeits-Einheiten daran gearbeitet, diese neue Ebene des Songwritings mit der bisherigen Attitüde des vollkommen freien Musizierens in Einklang zu bringen und neu zu gestalten. In wechselnden Gruppen – meist zwei Songwriter und zwei Musiker – klopfte man gegenseitige Einflüsse und Prägungen ab, entwickelte Songentwürfe und trug es erst dann in die gesamte Band. Gerade verglichen mit „Fieber“ eine komplett gegensätzliche Arbeitsweise, wo Musik als fortwährende, fast 24 Stunden täglich laufende Jamsession verstanden wurde. „Dabei ist es im Kern die gleiche Vorstellung und Idee geblieben“, erklärt Christian Fleck, neben Stuber der zweite Produzent des Albums: „Station 17 war immer eine experimentelle Band – ich glaube, nur deshalb gibt es uns auch nach 20 Jahren noch – und jetzt ist eben reiner Pop für uns der experimentelle Entwurf. Das ist für diese Band ein radikal neuer und damit erneut experimenteller Ansatz, einen Song wie 'Kairo' zu schreiben. Nur so ist aber gewährleistet, dass alle weiterhin mit Spaß dabei bleiben. Es wäre für uns einfach nicht reizvoll gewesen, jetzt die nächste Krautrock-Platte aufzunehmen.“ Dabei klangen die ersten neuen Song-Entwürfe, als es an die Arbeit zum neuen Album ging, noch stark nach „Fieber“. „Wir haben schnell gemerkt: Da fühlen wir uns wohl und zu Hause“, sagt Fleck. „Doch gerade das ist eben nicht der Ansatz der Band, also suchten wir nach genau den Ebenen, auf denen wir uns nicht so sicher fühlen. Das war schon immer der Weg von Station 17: Wo geht man hin, weil es dort unsicher wird? Und zwar auch beim Hörer. Der wird sich sicher ebenfalls fragen: Was ist denn jetzt mit denen los? Das kann man damit begründen, indem man antwortet: Es macht Sinn, weil die Songs einfach Sinn machen. Da braucht es also keine zwanghafte Versteifung auf ein Genre.“ Damit räumt die Hamburger Band auf herrlichste Weise mit einem möglicherweise existierenden Vorurteil auf: Eine Band wie diese muss in ihrer Struktur und Geschichte einfach immer experimentell sein. Muss sie eben nicht, vor allem, wenn das Experiment eben genau darin liegt, Experimentelles zu vermeiden und auf den Punkt zu kommen. Wie gut das gelingt, zeigen Songs wie der Opener „Kairo“, ein fulminant eingedampftes Stück Euphorie-Pop mit einem feixenden Lächeln im Mundwinkel. Oder die vorab ausgekoppelte und bereits weithin beachtete Single „Alles für alle“ (feat. Stritzi Streuner von Frittenbude), die sich zu einer echten Live-Hymne auf künftigen Konzerten entwickeln dürfte. Mit dem rein instrumentalen „Bellealliance“ gibt es in der Mitte des Albums eine Art Bindeglied zu früheren Arbeiten: Erneut ein experimentelles Stück Musik, diesmal aber gebettet in die aktuelle Klangästhetik aus breiten Keyboard-Landschaften und fluffig synkopiertem Dance-Pop. Neu in dieser Ausprägung sind natürlich auch die Rolle und Funktion der Texte. „In einigen Texten, etwa bei 'Alles für alle', steckt eine klare Ansage, eine Programmatik“, erzählt Sebastian Stuber. „Wir haben nichts gegen angemessene Sozialkritik, auch in eigener Sache. Wir verhandeln darin die Diskrepanz bei Barner 16 zwischen den Betreuern und Betreuten, die sich besonders in Sachen Bezahlung bemerkbar macht. Die Ansicht, ein Mensch mit Handicap habe nicht mehr Ansprüche als die eigene Grundsicherung, ist nicht richtig. Denn wir machen täglich die Erfahrung: Es reicht eben nicht. Auch diese Menschen möchten an der Gesellschaft partizipieren, und das kostet eben Geld.“ So haben Station 17 in ihrer für dieses Album neu gegründeten Enklave, einem eigenen Studio in Hamburg-Stellingen mit dem hübschen Namen „Stel Air“, im partizipativen Kollektivprozess eine neue Ebene des kreativen Miteinanders gefunden, die ohne Frage weithin für Gesprächsstoff sorgen dürfte. Natürlich ist man sich der Gefahr bewusst, mit einem derart radikalen Schritt einige der altgedienten Fans zu verschrecken, aber darf ein Künstler darauf Rücksicht nehmen? Demgegenüber steht jetzt eine neue mögliche Ebene: die der kommerziellen Breitenakzeptanz. Erwünscht? „Ja warum denn nicht?“, fragt Christian Fleck zurück. „Ich bin froh, dass wir mit diesem Album Songs erzeugt haben, die zumindest theoretisch ein großes Radio-Potenzial besitzen. Und sollten wir damit tatsächlich in den Charts landen, kann es der ganzen Sache doch nur dienlich sein.“ Denn so viel bleibt letztlich festzuhalten: Eine Band mit einem derart bedeutungsvollen sozialen, kreativen und integrativen Überbau sucht man vergeblich ein zweites Mal – und das nicht nur deutschlandweit. Und mit dermaßen prägnanter Musik kann man ihnen nur jeden Erfolg wünschen. Das aktuelle Line-Up von Station 17 umfasst: Sebastian Stuber – Keys & Albumproduktion Christian Fleck – Keys & Albumproduktion Felix Ernesto Schnettler - Gitarre Marc Huntenburg - Saxophon, Fx Philip Riedel - Keys Hauke Röh - Bass Alexander Tsitsigias - Schlagzeug, Gesang Nils Kempen - Gitarre Hoss Becker - Gesang Andreas Lehrke - Gesang Parjia Masoumi - Gesang bei "Kairo", "Alles für Alle" & "Strand" Carsten Schnathorst - Gesang bei "Es tut Dir leid", "Halma" & "Deine Zeichen" Siyavash Gharibi - Gesang bei "Mosaiksteine" Sandra Schulz - Gesang bei "Lass es frei" & Chor bei "Halma"

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